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Handbuch proto-Superorganismus 2.0: Wir müssen mal endlich reden!

Vom Einzeller zum proto-Superorganismus Menschheit: Dieses Kapitel erklärt in verständlicher Sprache und mit wissenschaftlichen Quellen, wie Kooperation, Symbiose, Informationsverarbeitung und Konfliktbegrenzung die großen Evolutionssprünge ermöglicht haben – und was das für Klimakrise, Ungleichheit, Demokratie und eine faire Weltordnung bedeutet.

1.Wir müssen mal endlich reden – Vom Einzeller zum proto-Superorganismus Menschheit

Stell dir vor, du sitzt in einer Therapiesitzung – aber auf der Couch liegt nicht eine einzelne Person, sondern die gesamte Menschheit. Acht Milliarden Menschen, Unternehmen, Institutionen und Infrastrukturen bilden gemeinsam etwas, das sich wie ein einziger Körper verhält. Die naheliegenden Fragen sind:

  • Wie sind wir an den Punkt gekommen, an dem unser eigenes Handeln unser Lebenssystem bedroht?
  • Welche Art von „Organismus“ müssten wir werden, um langfristig stabil zu funktionieren – ohne Faschismus, Kollaps oder permanente Krisen?

Um diese Fragen sinnvoll zu beantworten, hilft ein Blick auf die großen Evolutionssprünge: von Einzellern zu Vielzellern, von einzelnen Organismen zu Superorganismen – und heute zu einem technisch-kulturellen Verbund, den dieses Handbuch als proto-Superorganismus Menschheit beschreibt.¹²

Die Grundidee in einem Satz:

Evolution belohnt Konstellationen, in denen Information und Struktur so organisiert sind, dass sie länger gegen das Chaos der Umwelt bestehen.
Das geschieht immer wieder durch dasselbe Muster: Kooperation, Symbiose, Arbeitsteilung und Schutzmechanismen gegen „Cheater“.

Dieses Kapitel erklärt diese Logik in zwei Perspektiven:

  1. Kurz und bildlich, als „Therapiegeschichte“ der Materie – für alle, die ein klares Grundverständnis wollen.
  2. Technischer und begrifflich sauber, für Leser:innen, die die Verbindung zu Evolutionsbiologie, Systemtheorie und Informationsverarbeitung genauer nachvollziehen wollen.

1.1.Kurz erklärt: Fünf Evolutionsschritte als „Therapiegeschichte“ der Materie

Wir beginnen lange vor der Menschheit. Nicht aus Romantik, sondern weil sich bestimmte Problemlösungsstrategien durchziehen – von Molekülen über Zellen bis hin zu Gesellschaften.

1.1.1.Schritt 1: Replikation – Information gegen das Chaos

Am Anfang steht ein einfaches Problem: In einer thermisch und chemisch chaotischen Umgebung verschwinden Strukturen schnell wieder. Moleküle entstehen, zerfallen, werden durch Temperatur, Strahlung oder chemische Reaktionen zerstört. Alles ist ständig in Bewegung.

Der entscheidende Durchbruch ist die Entstehung von Molekülen, die Information speichern und kopieren können – Vorläufer von RNA und DNA. Strukturen, die ihre eigene Bauanleitung zuverlässig replizieren, bleiben länger im Spiel und können sich anreichern. Natürliche Selektion setzt an genau dieser Stelle an: Es gibt keine Absicht, kein Ziel, aber einen Bias. Was sich stabiler kopiert, ist später häufiger vorhanden.

Man kann das, ohne Teleologie, so zusammenfassen:Information, die sich selbst erhält, dominiert langfristig. Das ist kein „Plan“, sondern eine Richtung, die durch Replikation, Variation und Selektion entsteht.

1.1.2.Schritt 2: Zellen – Innere Ordnung, abgegrenzt von außen

Die nächste Hürde: Nackte Informationsmoleküle sind schutzlos. Temperatur, Chemie, Strahlung – alles kann sie jederzeit zerstören. Die Lösung ist die Abgrenzung. Moleküle kapseln sich durch Membranen ein und werden zu Zellen. Innen entsteht eine kontrollierbare Umgebung; außen bleibt das Chaos.

In diesem Moment verändert sich das Spiel grundlegend. Innerhalb der Zelle können Stoffwechselwege aufgebaut, Energieflüsse organisiert und komplexe Reaktionsketten stabil betrieben werden. Die Zelle ist ein kleiner, aktiver Innenraum in einem feindlichen Außenraum. Stoffe werden gezielt aufgenommen, verarbeitet und wieder abgegeben.

Schon hier erkennen wir ein Muster, das sich später wiederholt:

Abgrenzung + Kooperation von Komponenten → höhere Stabilität der Information.

1.1.3.Schritt 3: Symbiose in der Zelle – Effizienz durch „eingebaute Partner“

Mit der Zeit stoßen einzelne Zellen an energetische Grenzen. Komplexere Strukturen und Funktionen erfordern mehr Energie. Eine der großen Hypothesen der Evolutionsbiologie, die Endosymbiose-Theorie, beschreibt, wie dieser Engpass überwunden wurde: Bestimmte Bakterien wurden nicht verdaut, sondern zu dauerhaften Bewohnern im Zellinneren – den Vorfahren moderner Mitochondrien und, bei Pflanzen, Chloroplasten.

Aus kurzfristiger Perspektive könnte man sagen: Der Wirt „nutzt“ die Bakterien als Kraftwerke, die Bakterien erhalten Schutz und Nährstoffe. Langfristig verschwimmen diese Grenzen. Aus Sicht der heutigen Zelle sind Mitochondrien keine Fremdkörper, sondern funktionale Teile des Systems. Die Zelle ist bereits ein Symbioseverbund, in dem unterschiedliche genetische Ursprünge zu einer stabilen Einheit verschmolzen sind.

Die Folge: drastisch effizientere Energiegewinnung, die überhaupt erst die Grundlage für größere und komplexere Zellen geschaffen hat.

1.1.4.Schritt 4: Vielzeller – Zellen schließen sich zu einem Körper zusammen

Auch komplexe Einzelzellen sind begrenzt: klein, verletzlich und in dem, was sie „allein“ leisten können, überschaubar. Der nächste große Sprung ist darum die Entstehung von Vielzellern, in denen viele Zellen kooperieren und Arbeit aufteilen.¹

Zellen spezialisieren sich zu Muskel-, Nerven-, Drüsen- oder Sinneszellen. Sie geben einen Teil ihrer Autonomie auf und erhalten im Gegenzug Schutz, Versorgung und Zugang zu Funktionen, die alleine unmöglich wären: komplexe Körperformen, Organe, koordinierte Bewegung, langes Wachstum vor der Fortpflanzung.

Damit Zusammenarbeit stabil bleibt, entstehen Kontrollmechanismen gegen Cheater, also Zellen, die sich auf Kosten der anderen ungehemmt vermehren würden. Immunsysteme, Reparaturmechanismen und programmierter Zelltod (Apoptose) sorgen dafür, dass aus lokalen Störungen (z.B. Krebs) kein totaler Zusammenbruch wird.

Wieder sehen wir das Muster:

Kooperation + Arbeitsteilung + wirksame Kontrollmechanismen → höherer Organisationsgrad, längere Lebensdauer, mehr Anpassungsfähigkeit.

1.1.5.Schritt 5: Superorganismen – Individuen werden zu „Zellen“ eines Verbunds

Bei manchen Tiergruppen, vor allem bei sozialen Insekten, geht die Entwicklung noch einen Schritt weiter: Superorganismen entstehen.³

In Ameisenstaaten, Bienenstöcken oder Termitenkolonien übernehmen Individuen dauerhaft spezialisierte Rollen. Es gibt eine reproduktive Arbeitsteilung (Königinnen vs. Arbeiterinnen), kooperative Brutpflege und überlappende Generationen. Einzelne Tiere sind grundsätzlich lebensfähig, aber der Verband zeigt Eigenschaften, die eher an einen Organismus erinnern: ein gemeinsamer „Stoffwechsel“ (Nahrungsbeschaffung und -verteilung), Schutz- und Hygienemechanismen, kollektive Entscheidungsprozesse etwa bei der Wahl neuer Nistplätze.

Darum spricht die Biologie hier oft von Superorganismen: Zusammenschlüsse von Individuen, die so eng integriert sind, dass der Verbund als Einheit evolviert – also als Ganzes fitter oder weniger fit wird, nicht nur die einzelnen Tiere.²


1.2.Der Mensch als „Holobiont“: Schon unser Körper ist ein Verbund

Noch bevor wir über Gesellschaft sprechen, ist der einzelne Mensch bereits kein „Einzelwesen“, sondern ein Holobiont. Der Begriff bezeichnet den Verbund aus Wirt und all seinen symbiotischen Mikroben – vor allem Bakterien, Pilzen und Viren.

Aktuelle Schätzungen gehen davon aus, dass im menschlichen Körper etwa 30–40 Billionen menschliche Zellen und eine sehr ähnliche Zahl bakterieller Zellen leben – also grob ein Verhältnis von 1:1, nicht „10:1“, wie lange populär behauptet wurde. Dieses Mikrobiom ist kein Beiwerk, sondern tief in zentrale Funktionen integriert: Verdauung, Immunsystem, Stoffwechsel und sogar Verhalten werden messbar beeinflusst, wie systematische Übersichtsarbeiten zeigen.¹⁰

Man kann daher nüchtern festhalten:

Ein „Individuum“ ist biologisch bereits ein Netzwerk aus kooperierenden und regulierten Einheiten.

Dieses Bild – ein Verbund von Einheiten, die gemeinsam stabiler sind als einzeln – zieht sich von Molekülen über Zellen und Organismen bis hin zu Superorganismen.


1.3.Muster hinter den „major transitions“ – ohne Teleologie

Die Evolutionsbiologie spricht von „major transitions in evolution“, wenn Einheiten, die zuvor unabhängig waren, zu Bestandteilen einer höheren Einheit werden: Gene zu Chromosomen, Einzeller zu Vielzellern, Individuen zu Superorganismen.²¹¹

Über diese verschiedenen Beispiele hinweg tauchen drei wiederkehrende Elemente auf:

Erstens: Kooperation. Einheiten müssen dauerhaft zusammenarbeiten, statt sich gegenseitig zu zerstören. Stabil wird das durch Verwandtschaft, gegenseitigen Nutzen, Reputation oder Gruppenselektion. Martin Nowak fasst das in fünf Mechanismen der Evolutionsforschung zur Kooperation zusammen: Verwandtschaft, direkte und indirekte Reziprozität, Netzwerkstruktur und Gruppenselektion.¹²

Zweitens: Konfliktbegrenzung und „Policing“. Innerer Egoismus – also Einheiten, die auf Kosten der Gemeinschaft profitieren wollen – muss wirksam begrenzt werden. In Vielzellern übernehmen das z.B. DNA-Reparatur, Apoptose und Immunsystem. In sozialen Gruppen sind es Normen, Sanktionen oder institutionalisierte Bestrafung von Trittbrettfahrern. In menschlichen Gesellschaften kommen Rechtssysteme, Regulierungsbehörden, Medien, Gewerkschaften und Gerichte hinzu.

Drittens: verbesserte Informationsverarbeitung. Höhere Organisationsebenen brauchen bessere Mechanismen zur Erfassung und Verarbeitung von Information: genetische Codes und Regulationsnetzwerke, Nervensysteme und Gehirne, später Sprache, Schrift, Wissenschaft – und heute digitale Netze.

Wichtig ist eine Klarstellung: Das ist keine zielgerichtete „Aufgabe“ der Evolution. Evolution kennt keine Absichten, sondern nur Replikation, Variation und Selektion. Aber aus Sicht der Informationstheorie lässt sich sagen:

Strukturen, die Information effizient speichern, verarbeiten und gegen Störungen schützen, haben langfristig höhere Überlebenschancen.

Genau diese Kombination – Kooperation, Konfliktbegrenzung, informationsbasierte Steuerung – ist der rote Faden, der zum Bild des proto-Superorganismus Menschheit führt.


1.4.Übertragung auf die Menschheit – Version für Laien

Mit diesem Hintergrund können wir die Menschheit als Ganzes betrachten – nicht als „Bienenstock mit Menschen“, sondern als technischen und kulturellen Verbund, der einige Funktionen eines Organismus erfüllt.

1.4.1.Was heute schon wie „Organe“ funktioniert

Große Teile unseres Alltags hängen von Infrastrukturen ab, die man funktional als Organe lesen kann:

  • Der Stoffwechsel der Menschheit besteht aus Energienetzen, Verkehrssystemen, Landwirtschaft, Industrie und globalen Lieferketten. Über sie fließen Rohstoffe, Nahrungsmittel, Energie und Produkte durch den Planeten. Straßen, Schienen, Schiffe und Datenleitungen wirken wie Arterien; Häfen, Städte und Industriezentren wie Organe mit spezialisierter Funktion.

  • Das Nervensystem umfasst Internet, Medien, Wissenschaft, Bildung und digitale Plattformen. Hier werden Signale erfasst, verarbeitet, interpretiert und in Handlungen übersetzt. Nachrichten, Klimamodelle, Wirtschaftsprognosen und soziale Netzwerke bilden gemeinsam so etwas wie Sinnesorgane und neuronale Knoten.

  • Ein Immunsystem findet sich in Gesundheitssystemen, Katastrophenschutz, Normen gegen Gewalt und internationalen Kooperationsstrukturen. Es soll Schäden begrenzen, Krisen abfedern und den Verbund funktionsfähig halten.

  • Das Gedächtnis liegt in Bibliotheken, Datenbanken, Archiven, wissenschaftlichen Publikationen und Open-Source-Code. Hier werden Erfahrungen und Lösungen gespeichert, auf die der Verbund später zurückgreifen kann.

Die Metapher lautet:Wir leben längst in einem Verbund, dessen Stabilität von koordinierten Stoffflüssen, Informationsflüssen und Schutzmechanismen abhängt. Genau diese Interdependenzen tauchen in IPCC-Reports, IPBES-Berichten, Ungleichheitsstudien oder Analysen zu Demokratieabbau auf – nur meist verteilt über viele Fachdisziplinen. Das Bild des proto-Superorganismus macht sie in einem Rahmen sichtbar.

1.4.2.Wo wir anders sind als Ameisen

Genauso wichtig ist, was nicht gilt. Menschen sind keine austauschbaren Zellen. Jede Person hat Bewusstsein, Würde, Rechte und eigene Ziele. Es gibt keine biologische Verschmelzung, kein „Weltgehirn“ im mystischen Sinn, kein Recht, Individuen für das „Ganze“ zu opfern.

Darum spricht dieses Handbuch bewusst von einem proto-Superorganismus:

  • „proto“, weil die Kopplung der Lebensbedingungen hoch ist, aber die Selbstregulation unzureichend funktioniert;
  • „Superorganismus“ nur als Metapher, um sichtbar zu machen, dass wir eine gemeinsame Atmosphäre, Biosphäre, Ozeane und globale Versorgungsstrukturen teilen; dass globale Lieferketten, Finanzsysteme und digitale Netze uns real verbinden; und dass Entscheidungen irgendwo Nebenwirkungen überall haben.

1.4.3.Die Kernthese in Alltagssprache

Wenn du dir unseren Planeten als Körper vorstellst, dann lässt sich die Diagnose so formulieren:

  • Wir haben ein Nervensystem gebaut, das Aufmerksamkeit statt Wahrheit belohnt.
  • Wir betreiben einen Stoffwechsel, der Lebensgrundlagen zerstört, statt sie zu regenerieren.
  • Wir haben ein Immunsystem (Institutionen), das zu spät, zu schwach und oft ungerecht reagiert.
  • Und wir haben eine Wirtschaftsordnung, die Cheater – also Ausbeutung, Externalisierung und Steuerflucht – systematisch belohnt.

Der rote Faden mit Blick auf die Evolution lautet:

Immer wenn höhere Organisationsebenen stabil wurden, haben Kooperation, Symbiose und faire Lastenteilung über blinde Konkurrenz gewonnen – abgesichert durch klare Regeln gegen Missbrauch.

Genau diese Logik überträgt das Handbuch auf Demokratie, Wirtschaft und globale Kooperation – ausführlicher in Teil III – Normativer Rahmen und Teil IV – Lösungsräume, sowie in der Charta des proto-Superorganismus Demokratie.


1.5.Technische Version: Menschheit als „proto-Superorganismus“ im Licht der Evolutionsforschung

1.5.1.Der Begriff „Superorganismus“ – Stand der Debatte

In der Biologie wird der Begriff „Superorganismus“ kontrovers diskutiert. Klassisch gelten eusoziale Insektenkolonien (Ameisen, Bienen, Termiten) als Superorganismen, wenn reproduktive Arbeitsteilung, kooperative Brutpflege, überlappende Generationen und kollektive Anpassungsfähigkeit vorliegen.³ Neuere Arbeiten betonen, dass solche Kolonien Eigenschaften eines individuellen Organismus haben: gemeinsame Fitness, emergente Resilienz und ausgeprägte kollektive Entscheidungsmechanismen.¹¹

Philosoph:innen und Biolog:innen warnen gleichzeitig vor einem unkritischen Übertrag dieses Begriffs auf menschliche Gesellschaften. Die Gefahr biologistischer Fehlschlüsse ist real („Gesellschaft als Organismus → Opfer für das Ganze legitim“). Individuelle Autonomie und Menschenrechte können in solchen Deutungen unter die Räder geraten, und totalitäre Ideologien haben genau solche Bilder eingesetzt.

Dieses Handbuch reagiert mit zwei klaren Abgrenzungen:

  1. Deskriptiv beschreibt der „proto-Superorganismus Menschheit“ Kopplungsstrukturen von Energie-, Stoff- und Informationsflüssen und deren Systemdynamik. Es geht um funktionale Analysen, nicht um metaphysische Spekulation.
  2. Normativ stellt die Charta des proto-Superorganismus Demokratie klar, dass individuelle Rechte, Würde und Pluralität nicht dem „Ganzen“ geopfert werden dürfen, sondern Funktionsbedingungen eines stabilen globalen Verbunds sind.

1.5.2.Major transitions und die Menschheit

West et al. (2015) und andere fassen die großen Übergänge der Evolution als „Transitions in individuality“: Einheiten mit zuvor getrennten Reproduktionsinteressen werden zu Teilen einer höheren Einheit.¹¹

Auf die Menschheit übertragen heißt das: Es gibt keine biologische Verschmelzung von Menschen zu einem Organismus. Aber es gibt eine effektive Kopplung der Reproduktionsbedingungen:

  • Klimasystem und Atmosphäre,
  • globale Biosphäre und Ökosystemdienstleistungen,
  • zentrale Infrastruktur (Energie, Wasser, Verkehr, digitale Netze),
  • Finanz-, Handels- und Versorgungssysteme.

Diese Kopplung erzeugt eine Gemeinschaft des Schicksals: Emissionen einer Region beeinflussen das Klima aller. Finanzkrisen, Pandemien, Lieferkettenstörungen und Kriege haben globale Rückwirkungen. Technologische Risiken (z.B. unkontrollierte KI- oder Biotech-Entwicklung) wirken als systemische Risiken auf Verbundebene.

Die Arbeitshypothese dieses Handbuchs lautet daher:

Die Menschheit befindet sich in einem Übergang zu einer höheren Ebene sozialer Integration, ohne bislang über ausreichende Kooperations- und Konfliktregime zu verfügen, um diese Integration stabil und gerecht zu machen.

Genau solche Übergangsstufen können in der biologischen Evolution scheitern – etwa wenn Konfliktregime versagen und Krebs oder kollabierende soziale Strukturen die neue Organisationsebene zerstören.

1.5.3.Kooperation als Evolutionsfaktor – und als politisches Designproblem

Nowak zeigt, dass Kooperation in evolutionären Modellen über fünf Mechanismen stabilisiert werden kann: Verwandtschaft, direkte Reziprozität, indirekte Reziprozität (Ruf), Netzwerkstruktur und Gruppenselektion.¹² Viele menschliche Institutionen lassen sich direkt darauf abbilden:

  • Verwandtschaft → Familien, Clans – aber auch Nepotismusrisiken;
  • direkte Reziprozität → Verträge, wiederholte Interaktionen, berufliche Netzwerke;
  • indirekte Reziprozität → Medien, Reputationssysteme, transparente Daten;
  • Netzwerkstruktur → lokale, regionale und globale Koalitionen und Allianzen;
  • Gruppenselektion → Konkurrenz zwischen Institutionen, Städten, Staaten.

Der entscheidende Punkt für dieses Handbuch ist:Wir können Kooperationsmechanismen bewusst designen, statt sie nur wachsen zu lassen. Über Rechte und Pflichten, Anreizsysteme (z.B. Besteuerung, Zeitwirtschaft, Commons) und transparente Informationssysteme lässt sich steuern, welche Formen von Kooperation belohnt und welche Formen von Cheating bestraft werden.

Damit wird die Metapher des proto-Superorganismus anschlussfähig an konkrete Fragen von Demokratie, Wirtschaft und Governance – ohne einen „Plan der Natur“ zu unterstellen. Die Ausarbeitung findet sich u.a. in Teil III – Normativer Rahmen, Teil IV – Lösungsräume und im Entwurf „BeyondKapitalismus“.


1.6.Warum „Symbiose und Kooperation vor Konkurrenz und Zerstörung“ – aber nicht naiv

Aus der Evolutionsforschung folgt nicht, dass Kooperation immer gut und Konkurrenz immer schlecht wäre. Realistischer ist: Selektion arbeitet auf mehreren Ebenen gleichzeitig. Innerhalb von Gruppen kann Egoismus vorteilhaft sein, zwischen Gruppen können kooperative Gruppen erfolgreicher sein als unkooperative. Höhere Integrationsstufen setzen sich nur durch, wenn innerer Egoismus ausreichend begrenzt wird und externe Risiken gemeinsam besser bewältigt werden können.

Für die Menschheit heißt das:

  • Eine Ordnung, die reine Konkurrenz zwischen Staaten, Konzernen und Individuen zulässt – ohne starke Regeln – erzeugt systematisch Externalisierung von Schäden (CO₂, Biodiversitätsverlust, Ausbeutung) und Instabilität (Krisen, Kriege, Kollapsrisiken).
  • Ein völlig konfliktfreies System ist weder realistisch noch wünschenswert. Wettbewerb um bessere Ideen und Innovation, konstruktive Auseinandersetzung und pluralistische Debatten sind wichtige innerorganisatorische Kräfte.

Die Leitlinie dieses Handbuchs lässt sich deshalb so formulieren:

Kooperation soll dort dominieren, wo es um gemeinsame Lebensgrundlagen und Basissicherheit geht (Klima, Biodiversität, Gesundheit, Information, grundlegende Versorgung).
Konkurrenz ist nur dort sinnvoll, wo sie innerhalb dieser Grenzen stattfindet und durch klare Regeln gebändigt wird.

Genau darum geht es im Zusammenspiel von Teil III – Normativer Rahmen, Teil IV – Lösungsräume und der Charta des proto-Superorganismus Demokratie.


1.7.Kernaussagen zum Mitnehmen

  1. Evolution ist kein Plan, aber sie bevorzugt stabile Informations- und Kooperationsstrukturen.
    „Erfolg“ bedeutet in diesem Kontext: Strukturen, die sich selbst erhalten und weiterentwickeln können, setzen sich häufiger durch.

  2. Große Sprünge in der Evolution – die „major transitions“ – folgen wiederkehrenden Mustern: Integration kleinerer Einheiten, Konfliktregime gegen Cheater und verbesserte Informationsverarbeitung.¹²

  3. Der Mensch ist bereits ein Verbundwesen (Holobiont).
    Selbst unser Körper ist eine organisierte Symbiose aus menschlichen und mikrobiellen Zellen, deren Zusammenspiel Gesundheit und Verhalten beeinflusst.

  4. Die Menschheit als technisch-kultureller Verbund zeigt zentrale Organismusfunktionen: Stoffwechsel (Energie- und Stoffflüsse), Nervensystem (Informationssysteme), Immunsystem (Institutionen und Normen), Gedächtnis (Wissen, Daten, Kultur). Die Systemdiagnose dazu steht detailliert in Teil I – Realitätsschock und „Am Scheideweg“.

  5. Die Metapher „proto-Superorganismus“ ist deskriptiv und normativ begrenzt.
    Sie dient als Denkwerkzeug, um funktionale Anforderungen an eine stabile, demokratische Weltordnung zu formulieren – ohne individuelle Rechte oder Vielfalt zu relativieren. Die Charta macht diese Grenze juristisch explizit.

  6. „Symbiose und Kooperation vor Konkurrenz und Zerstörung“ ist kein naiver Wunsch, sondern eine nüchterne Einsicht:
    Höhere Integrationsstufen überleben langfristig nur, wenn Konflikte begrenzt, Ressourcen fairer verteilt und Informationssysteme ehrlich genug sind, um rechtzeitig Kurskorrekturen zu ermöglichen. Genau darum dreht sich die Kombination aus Lösungsräumen, Prüfregeln und Selbstregulation und BeyondKapitalismus.


1.8.Weiterführende Quellen (Auswahl)

[1] West, S. A. et al. (2015): Major evolutionary transitions in individuality. PNAS 112(33): 10112–10119. https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1421402112

[2] Maynard Smith, J.; Szathmáry, E. (1995): The Major Transitions in Evolution. Oxford University Press. Klassische Monografie zu den großen Evolutionsübergängen und den Bedingungen für neue Ebenen von „Individualität“.

[3] Kümmerli, R.; Keller, L. (2009): Social insects – superorganisms or just superb organisms? Current Biology 19(11): R395–R398.

[4] Canciani, M. et al. (2019): Revising the Superorganism: An Organizational Approach to Complex Eusociality. Frontiers in Psychology 10: 2653. https://www.frontiersin.org/articles/10.3389/fpsyg.2019.02653/full

[5] Gillooly, J. F. et al. (2010): Eusocial insects as superorganisms: insights from metabolic theory. Journal of Animal Ecology 79(3): 543–552. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC2928319/

[6] Faure, D. et al. (2018): Holobiont: a conceptual framework to explore the eco-evolutionary and functional implications of host–microbiota interactions. New Phytologist 218(4): 1321–1327. https://nph.onlinelibrary.wiley.com/doi/10.1111/nph.15199

[7] Sender, R. et al. (2016): Revised estimates for the number of human and bacteria cells in the body. PLOS Biology 14(8): e1002533. https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC4991899/

[8] Abbott, A. (2016): Scientists bust myth that our bodies have more bacteria than human cells. Nature News. https://www.nature.com/articles/nature.2016.19136

[9] Ma, Z. et al. (2024): A systematic framework for understanding the microbiome in human health and disease. Signal Transduction and Targeted Therapy 9: 237. https://www.nature.com/articles/s41392-024-01946-6

[10] Nowak, M. A. (2006): Five Rules for the Evolution of Cooperation. Science 314(5805): 1560–1563. Zusammenfassung frei zugänglich über: https://pmc.ncbi.nlm.nih.gov/articles/PMC3279745/

[11] Okasha, S. (2020): The Major Transitions in Evolution – A philosophy-of-biology perspective. Frontiers in Ecology and Evolution. Preprint: https://philsci-archive.pitt.edu/20870/

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