1.Lösungsräume: Prinzipien für einen gesunden Superorganismus
Die bisherige Diagnose zeigt: Der Superorganismus Menschheit operiert ökologisch, sozial und politisch außerhalb seines stabilen Funktionsbereichs. Gleichzeitig gibt es viele Vorschläge, wie ein nachhaltigeres, gerechteres und demokratischeres System aussehen könnte. Dieses Handbuch will keine fertige Blaupause liefern, sondern * *Rahmenbedingungen** definieren, denen Lösungen genügen müssen, damit sie mit einem gesunden Superorganismus vereinbar sind.
Teil IV beschreibt daher Familien von Lösungsansätzen, die in der Forschung und Praxis als wirksam oder vielversprechend gelten, und leitet allgemeine Prinzipien ab. Es benennt bewusst keine konkreten Gesetze, Steuersätze oder institutionellen Designs, sondern formuliert Filter, anhand derer jede konkrete Lösung bewertet werden kann.
1.1.Ökologische Leitplanken: Aktivitäten innerhalb der planetaren Grenzen
1.1.1.Systemische Transformation statt Einzelmaßnahmen
Der IPCC und andere wissenschaftliche Gremien betonen, dass das Einhalten oder Wiedererreichen der Klimaziele und anderer planetarer Grenzen keine Frage einzelner technischer Maßnahmen ist, sondern umfassende **Systemtransformationen ** erfordert – insbesondere in den Bereichen Energie, Landnutzung, Städte, Verkehr und Industrie.[3][29] In den AR6-Berichten werden verschiedene illustrative Minderungspfade beschrieben, die zwar unterschiedliche Schwerpunkte setzen (z.B. starke Energieeinsparungen, starker Ausbau erneuerbarer Energien, extensive Kohlendioxidentnahme), aber alle auf tiefgreifende Veränderungen in diesen Sektoren hinauslaufen.[29]
Der UNEP Emissions Gap Report 2024 fasst die verfügbaren Optionen so zusammen: Neben der Umstellung der Energieversorgung auf erneuerbare Quellen sind Nachfrageseitige Maßnahmen, Effizienzsteigerungen, * *Elektrifizierung** und **Brennstoffwechsel** zentrale Bausteine.[4][30] Ein begleitender Bericht von UNEP und Partnern zeigt, dass das technisch und wirtschaftlich erschließbare Minderungspotenzial bis 2035 sogar größer ist als die heutige „Emissionslücke“ – das Problem ist weniger ein Mangel an Optionen als ein Mangel an Umsetzung.[30][31]
1.1.2.Erneuerbare Energien, Elektrifizierung und Effizienz
Organisationen wie IRENA (International Renewable Energy Agency) und die Internationale Energieagentur (IEA) zeigen, dass der Anteil erneuerbarer Energien an der globalen Stromerzeugung schnell wächst. IEA-Daten zufolge könnten erneuerbare Energien ihren Anteil am weltweiten Strommix von etwa 30% im Jahr 2023 auf rund 46% im Jahr 2030 steigern; nahezu der gesamte Zuwachs soll aus Wind- und Solarenergie stammen.[32] Andere Analysen zeigen, dass Erneuerbare bereits 2024 einen Rekordanteil von etwa 32% der globalen Stromerzeugung erreichten und fossile Quellen erstmals in einigen Zeiträumen übertrafen.[33]
IRENA skizziert einen Pfad, bei dem eine Kombination aus Elektrifizierung der Endverbrauchssektoren, Ausbau erneuerbarer Stromerzeugung, Energieeffizienz, direkter Nutzung erneuerbarer Energien, grünem Wasserstoff und in begrenztem Umfang CO₂-Abscheidung und -Speicherung notwendig ist, um Emissionen bis Mitte des Jahrhunderts auf Netto-Null zu senken.[31] Entscheidend ist, dass diese Instrumente nicht isoliert, sondern koordiniert eingesetzt werden.
Für den Leitfaden ergibt sich daraus ein allgemeines Prinzip: Lösungen, die mit einem gesunden Superorganismus vereinbar sind, verschieben die Energie- und Stoffströme weg von fossilen, endlichen Quellen hin zu regenerativen, lokal und global verträglichen Quellen. Sie reduzieren den absoluten Ressourcen- und Energieverbrauch dort, wo dieser über das für ein gutes Leben notwendige Maß hinausgeht, und verbessern gleichzeitig Effizienz und Gerechtigkeit des Zugangs.
1.1.3.Landnutzung, Biodiversität und Kreislaufwirtschaft
Die Einhaltung und Wiederherstellung planetarer Grenzen erfordert auch Veränderungen in der Landnutzung, der Landwirtschaft und dem Umgang mit Materialien. Die IPCC- und IPBES-Berichte betonen, dass ein nachhaltiger Umgang mit Wäldern, Böden und Ozeanen sowohl für den Klimaschutz als auch für die Biodiversität zentral ist.[3][5][6][7] Dazu gehören der Schutz und die Wiederherstellung von Ökosystemen, eine Reduktion von Entwaldung und Degradation sowie eine Umstellung auf Formen der Landwirtschaft, die Bodengesundheit, Wasserhaushalt und Artenvielfalt fördern.
Kreislaufwirtschaftskonzepte zielen darauf ab, Materialflüsse so zu organisieren, dass Abfälle minimiert, Produkte langlebiger und besser reparierbar werden und Rohstoffe wiederverwendet oder recycelt werden. Diese Ansätze sind nicht nur symbolisch, sondern können Ressourcennutzung und Umweltbelastung messbar senken, wenn sie konsequent umgesetzt werden.
Ein lösungsorientierter Leitfaden muss daher folgende Kriterien formulieren:
- Aktivitäten sind nur dann mit einem gesunden Superorganismus vereinbar, wenn sie mittelfristig dazu beitragen, die Überschreitungen der planetaren Grenzen zu verringern, statt sie zu verstärken.
- Maßnahmen, die Emissionen oder Umweltbelastungen zwar lokal reduzieren, aber global oder in anderen Sektoren erhöhen ( z.B. durch Verlagerung von Produktion in Länder mit laxeren Standards), sind kritisch zu bewerten.
- Land- und Ressourcennutzung müssen nicht nur klimaneutral, sondern auch biodiversitätsschonend und sozial gerecht sein; Maßnahmen, die ökologische Gewinne auf Kosten von Menschenrechten oder Ernährungssicherheit erkaufen, sind nicht akzeptabel.
1.1.4.Degrowth, „grünes Wachstum“ und Entkopplung
Die Debatte um „grünes Wachstum“ und „Degrowth“ spiegelt unterschiedliche Einschätzungen darüber, ob sich wirtschaftliche Leistung (gemessen etwa am Bruttoinlandsprodukt) dauerhaft vom Ressourcenverbrauch und von Umweltbelastungen entkoppeln lässt.[36][37] Studien zeigen, dass es in einigen Ländern und Sektoren eine relative Entkopplung gibt (das heißt: Umweltbelastung wächst langsamer als das BIP), aber robuste Belege für eine umfassende, langfristige absolute Entkopplung auf globaler Ebene sind bislang begrenzt.[36][37]
Ein Bericht des Europäischen Umweltbüros („Decoupling Debunked“) argumentiert, dass technologischer Fortschritt und Effizienzgewinne zwar wichtig sind, aber allein nicht ausreichen, um Umweltbelastungen im nötigen Umfang zu reduzieren, wenn das Gesamtvolumen von Produktion und Konsum weiter steigt.[36] Neuere Literatur vergleicht narrative Stränge von „Green Growth“ und „Degrowth“ und kommt zu dem Schluss, dass beide Perspektiven legitime Anliegen benennen, aber unterschiedliche Schwerpunkte setzen: Während „Green Growth“ auf technologische Substitution und Effizienz setzt, betont „Degrowth“ die Notwendigkeit einer absoluten Reduktion bestimmter Produktions- und Konsummuster, insbesondere in wohlhabenden Gesellschaften.[37]
Für den Leitfaden ist weniger entscheidend, welcher Begriff verwendet wird, sondern ob eine konkrete Lösung folgende Bedingungen erfüllt:
- Sie reduziert den absoluten Ressourcen- und Energieverbrauch in Bereichen, die über das für ein gutes Leben notwendige Maß hinausgehen.
- Sie senkt Emissionen und andere Umweltbelastungen in einer Geschwindigkeit und Größenordnung, die mit den naturwissenschaftlich definierten Zielen kompatibel ist.
- Sie verbessert oder zumindest wahrt soziale Gerechtigkeit und respektiert Grundrechte, anstatt ökologische Anpassung auf Kosten verwundbarer Gruppen zu betreiben.
Ein gesunder Superorganismus benötigt also nicht beliebiges Wachstum, sondern zielgerichtete Verbesserungen der Lebensqualität innerhalb ökologischer Leitplanken.
1.2.Verteilung und Ökonomie im Superorganismus
1.2.1.Jenseits des BIP als Hauptzielgröße
Traditionelle wirtschaftspolitische Zielgrößen wie das Bruttoinlandsprodukt (BIP) erfassen die Gesamtproduktion von Waren und Dienstleistungen, sagen aber wenig über Verteilung, ökologische Belastung oder subjektives Wohlbefinden aus. In der Forschung und in der Praxis werden seit Jahren alternative oder ergänzende Indikatorensysteme entwickelt, die Aspekte wie Gesundheit, Bildung, ökologische Qualität, soziale Kohäsion und subjektive Zufriedenheit einbeziehen.
Das Konzept der „Doughnut Economics“ schlägt vor, eine „soziale Untergrenze“ (z.B. Ernährung, Wohnen, Gesundheit, Bildung, politische Teilhabe) und eine „ökologische Obergrenze“ (die planetaren Grenzen) gemeinsam zu betrachten.[5][34] Zwischen diesen beiden Ringen liegt ein Bereich, in dem alle Menschen ein gutes Leben führen können, ohne die ökologischen Grundlagen zu zerstören.[34] Städte wie Amsterdam haben dieses Konzept aufgegriffen und versuchen, ihre Wirtschafts- und Stadtentwicklungspolitik daran auszurichten, z.B. durch verantwortliche Beschaffung, Förderung zirkulärer Geschäftsmodelle und soziale Programme.[34]
Parallel dazu haben sich mehrere Staaten (u.a. Neuseeland, Schottland, Island, Wales) zu einer Allianz der „Wellbeing Economy Governments“ (WEGo) zusammengeschlossen.[35] Diese Regierungen versuchen, wirtschaftspolitische Entscheidungen systematisch an Wohlfahrtszielen zu orientieren – etwa psychische Gesundheit, Kinderwohl, Ungleichheit, Umweltqualität – und nicht primär an Wachstumsraten.[35]
Für den Leitfaden resultiert daraus ein klares Prinzip: Eine mit einem gesunden Superorganismus vereinbare Ökonomie richtet ihre Erfolgsmessung nicht auf abstraktes Wachstum, sondern auf das tatsächliche Wohlbefinden von Menschen innerhalb ökologischer Grenzen. Das bedeutet nicht, dass das BIP nutzlos ist, aber es darf nicht die zentrale oder alleinige Steuergröße sein.
1.2.2.Versorgung, Grundsicherung und gerechte Verteilung
Die in Teil III beschriebenen sozialen Grundrechte (Wasser, Nahrung, Wohnen, Gesundheit, Bildung) erfordern konkrete ökonomische Strukturen, die Grundversorgung gewährleisten.[19][20][21][23][25] Es gibt unterschiedliche Modelle, wie dies organisiert werden kann: öffentliche Daseinsvorsorge, Sozialversicherungen, progressive Steuer- und Transfersysteme, lokale Commons-Modelle, genossenschaftliche Strukturen oder eine Kombination daraus.
Der Leitfaden trifft an dieser Stelle bewusst keine Entscheidung für ein bestimmtes Modell, formuliert aber Kriterien, die jede Lösung erfüllen muss:
Sicherung der Grundrechte
Die Organisation von Produktion und Verteilung muss gewährleisten, dass alle Menschen Zugang zu den genannten Grundgütern haben. Strukturen, die dauerhaft große Gruppen von Grundversorgung ausschließen oder in extreme Unsicherheit drängen, sind mit einem gesunden Superorganismus unvereinbar.Abbau extremer Ungleichheit
Extreme Konzentration von Einkommen und Vermögen, wie sie in den letzten Jahrzehnten in vielen Ländern beobachtet wurde, ist nicht nur normativ problematisch, sondern kann wirtschaftliche Stabilität, soziale Kohäsion und demokratische Prozesse schwächen.[8][9][10][27] Ein mit diesem Leitfaden kompatibles System muss daher Mechanismen enthalten, um extreme Ungleichheit zu begrenzen – etwa durch progressive Besteuerung, Eigentumsvielfalt, Mitbestimmung oder andere Instrumente.Priorisierung von systemrelevanter Arbeit
Tätigkeiten, die für das Funktionieren des Superorganismus zentral sind – Pflege, Gesundheit, Bildung, ökologische Regeneration, Infrastruktur – dürfen nicht systematisch schlechter gestellt sein als Tätigkeiten, die primär finanzielle Renditen erzeugen. Eine nachhaltige Ökonomie bewertet Arbeit nicht nur nach Marktpreisen, sondern danach, wie stark sie zum Erhalt und zur Gesundheit des Gesamtsystems beiträgt.Widerstandsfähigkeit gegenüber Schocks
Ökonomische Strukturen müssen so gestaltet sein, dass sie Krisen – z.B. Pandemien, Klimaschocks, Finanzkrisen – abfedern können, ohne große Teile der Bevölkerung in existenzielle Not zu stürzen. Dazu gehören Diversifizierung, Speicherkapazitäten, Notfallmechanismen und internationale Solidarität.
1.2.3.Märkte, Commons und öffentliche Güter
Märkte sind ein leistungsfähiger Mechanismus, um Angebot und Nachfrage für viele Güter zu koordinieren, sofern bestimmte Voraussetzungen wie Wettbewerb, Transparenz und klare Eigentumsrechte erfüllt sind. Gleichzeitig gibt es Bereiche, in denen Marktmechanismen allein systematisch versagen oder zu Ergebnissen führen, die mit den Zielen eines gesunden Superorganismus unvereinbar sind – etwa bei öffentlichen Gütern, natürlichen Gemeingütern, grundlegender Infrastruktur oder stark verzerrten Machtverhältnissen.
Die Forschung zu Commons, insbesondere von Elinor Ostrom, zeigt, dass gemeinschaftliche und polyzentrische Verwaltungsformen für gemeinsame Ressourcen (z.B. Weiden, Bewässerungssysteme, Fischgründe) langfristig funktionieren können, wenn bestimmte Gestaltungsprinzipien beachtet werden.[28] Dazu gehören unter anderem klar definierte Grenzen, Regeln, die an lokale Bedingungen angepasst sind, partizipative Entscheidungsmechanismen, Monitoring, abgestufte Sanktionen und Konfliktlösungsmechanismen.[28]
Für den Leitfaden bedeutet das: Eine nachhaltige Ökonomie wird typischerweise eine Mischung aus Marktmechanismen, Commons-Ansätzen und öffentlicher Daseinsvorsorge enthalten. Entscheidend ist, dass:
- lebenswichtige Infrastrukturen und Ressourcen (z.B. Wasser, Energiegrundversorgung, grundlegende Gesundheitsleistungen) nicht vollständig dem kurzfristigen Profitprinzip überlassen werden,
- Gemeinschaften realen Einfluss auf die Regeln zur Nutzung ihrer lokalen Commons haben,
- Machtkonzentrationen, die aus Märkten entstehen (z.B. Monopole, Oligopole), wirksam reguliert und, wenn nötig, aufgebrochen werden.
1.3.Demokratie als Lern- und Steuerungsapparat
1.3.1.Entscheidungen unter Unsicherheit und Langfristigkeit
Viele zentrale Entscheidungen für den Superorganismus – etwa zum Klima, zur Energieinfrastruktur, zur Nutzung von Land und Ozeanen, zu neuen Technologien – haben langfristige Wirkungen und sind mit Unsicherheit behaftet. Ein demokratisches System, das als „Gehirn“ des Superorganismus fungieren soll, muss damit umgehen können, ohne in Lähmung oder autoritäre Kurzschlussreaktionen zu verfallen.
Der IPCC betont, dass unterschiedliche Minderungspfade unterschiedliche gesellschaftliche Werte und Präferenzen widerspiegeln und dass die Wahl zwischen ihnen deshalb nicht rein technisch, sondern normativ ist.[3][29] Wissenschaft kann Optionen, Risiken und Wahrscheinlichkeiten beschreiben, aber nicht alleine entscheiden, welche Kombination aus Klimaschutz, Verteilungseffekten und anderen Zielen eine Gesellschaft wählt.
Ein mit diesem Leitfaden kompatibles Demokratieverständnis beinhaltet daher:
- informierte Entscheidungen, die auf bestmöglichem Wissen basieren,
- inklusive Beteiligung, die nicht nur formale Wahlakte umfasst, sondern auch deliberative Prozesse,
- Rechenschaft und Revision, sodass Entscheidungen überprüft und bei Bedarf geändert werden können.
1.3.2.Bürgerräte und deliberative Formate
In den letzten Jahren wurden in mehreren Ländern sogenannte Klimabürgerräte oder Bürger:innenversammlungen eingesetzt, um komplexe Fragen der Klimapolitik zu bearbeiten. Beispiele finden sich u.a. in Irland, Frankreich, dem Vereinigten Königreich und anderen europäischen Staaten.[38] Diese Gremien werden typischerweise per Losverfahren aus der Bevölkerung ausgewählt, erhalten Zeit und Ressourcen, um sich zu informieren, und erarbeiten nach deliberativer Beratung Empfehlungen an Parlamente und Regierungen.[38]
Evaluierungen dieser Prozesse zeigen, dass Teilnehmer:innen häufig ihre Kenntnisse und ihr Verständnis der Themen deutlich erweitern, dass Polarisierung tendenziell abnimmt und dass Empfehlungen oft ambitionierter, aber zugleich differenzierter ausfallen als der Status quo.[38] Gleichzeitig hängt die tatsächliche Wirkung solcher Versammlungen stark davon ab, wie ernst Regierungen und Parlamente die Ergebnisse nehmen und wie sie institutionell eingebettet sind.
Für den Leitfaden ist wichtig: Bürgerräte und ähnliche Formate sind kein Allheilmittel und ersetzen keine Parlamente. Sie können aber als Teil eines polyzentrischen, lernfähigen Steuerungssystems dienen – als Orte, an denen der Superorganismus „nachdenken“ kann, bevor irreversible Entscheidungen getroffen werden.
1.3.3.Polyzentralität und Mehrebenensysteme
Die Herausforderungen, vor denen der Superorganismus steht, sind auf verschiedenen Ebenen angesiedelt: lokal (z.B. Stadtplanung, Wasserversorgung), national (z.B. Steuer- und Sozialpolitik), regional (z.B. EU-Politiken) und global ( z.B. Klimaabkommen, Biodiversitätsschutz, Welthandel). Ein zentralistisches System, das alle Entscheidungen an einer Stelle bündeln will, ist überfordert; ein völlig fragmentiertes System, das nur nationale Souveränität kennt, kann globale Aufgaben nicht bewältigen.
Ein polyzentrischer Ansatz – mehrere Zentren von Entscheidungsfindung, die koordiniert, aber nicht hierarchisch starr organisiert sind – ist daher funktional sinnvoll.[28][3] Kommunen, Regionen, Staaten und internationale Institutionen müssen jeweils klar definierte Zuständigkeiten und gleichzeitig Mechanismen der Zusammenarbeit haben.
Für den Leitfaden resultieren daraus mehrere Prinzipien:
- Entscheidungen sollen auf der niedrigstmöglichen Ebene getroffen werden, die das Problem sinnvoll bearbeiten kann ( „Subsidiarität“), aber es braucht verbindliche Kooperation, wenn Wirkungen die lokale Ebene überschreiten.
- Globale Gemeingüter (z.B. Atmosphäre, hohe See, Teile der Biodiversität) erfordern Institutionen, die über nationale Interessen hinausdenken und verbindliche Regeln setzen können, ohne demokratische Prinzipien zu unterlaufen.
- Checks and Balances gelten nicht nur innerhalb eines Staates, sondern auch zwischen Ebenen und Institutionen – etwa zwischen nationalen Regierungen, Parlamenten, Gerichten und internationalen Organisationen.
1.4.Informationsökologie und Bildung als Nervensystem
1.4.1.Strukturen für verlässliche Information
Wie in Teil I und III dargestellt, ist die Informationsumgebung des Superorganismus heute stark von digitalen Plattformen geprägt, die auf Aufmerksamkeit und Werbeeinnahmen optimiert sind.[13][14][15] Forschung zeigt, dass Desinformation und manipulative Inhalte sich schnell verbreiten können, aber auch, dass gut gestaltete Korrekturen und präventive „Inokulationen“ wirksam sind.[14][15]
Ein gesundes Nervensystem benötigt nicht nur viele Signale, sondern verlässliche Signale. Für die Informationsökologie bedeutet das:
- Es braucht unabhängige, gut finanzierte Medienorganisationen, die nach journalistischen Standards arbeiten und nicht vollständig von Werbeeinnahmen oder staatlicher Einflussnahme abhängig sind.
- Es braucht Institutionen, die Fakten prüfen und Korrekturen bereitstellen, ohne selbst parteipolitisch instrumentalisiert zu werden.
- Es braucht Transparenz über algorithmische Empfehlungslogiken, insbesondere dort, wo Plattformen de facto „Gatekeeper“ wichtiger Informationsströme sind.[13][26]
Der Leitfaden schreibt nicht vor, wie solche Strukturen konkret organisiert werden sollen, macht aber klar, dass Systeme, die verlässliche Information systematisch schwächen – etwa durch systematischen Druck auf freie Medien, durch Informationsmonopole oder durch unregulierte algorithmische Verstärkung von Desinformation – mit einem gesunden Superorganismus unvereinbar sind.
1.4.2.Bildung, Medienkompetenz und „kognitive Immunität“
Bildung ist nicht nur ein individuelles Recht, sondern auch eine Voraussetzung für kollektive Handlungsfähigkeit.[19][20][24] In einer digital geprägten Welt gehört dazu ausdrücklich Medien- und Informationskompetenz: die Fähigkeit, Quellen zu bewerten, Desinformation zu erkennen, Algorithmen kritisch zu hinterfragen und die eigene Rolle in sozialen Netzwerken zu reflektieren.
Forschungsarbeiten zu „Inokulationstheorien“ zeigen, dass sich Menschen besser gegen Desinformation wehren können, wenn sie zuvor über typische Manipulationsstrategien aufgeklärt wurden – etwa durch interaktive Spiele, Trainings oder Kampagnen, die zeigen, wie Falschinformationen aufgebaut sind.[14][15] Dieser Effekt wird als Aufbau von „kognitiver Immunität“ beschrieben: Wer die Muster kennt, fällt weniger leicht darauf herein.
Ein lösungsorientierter Leitfaden legt daher nahe:
- Bildungssysteme sollten Medien- und Informationskompetenz nicht als Zusatzthema, sondern als Kernkompetenz behandeln.
- Staaten und andere Akteure sollten Programme fördern, die auf Inokulation und Prebunking setzen, anstatt nur auf reaktive Korrekturen.
- Plattformen sollten verpflichtet werden, bei der Eindämmung von Desinformation mitzuwirken, ohne legitimen Diskurs zu unterdrücken.
1.4.3.Digitale Gemeingüter und Infrastruktur
Da ein erheblicher Teil der gesellschaftlichen Kommunikation digital vermittelt wird, stellt sich die Frage, ob zentrale digitale Infrastrukturen – etwa grundlegende Kommunikationsplattformen, Datenräume oder Open-Source-Software – als eine Art digitale Gemeingüter betrachtet und geschützt werden sollten. Die Gestaltung solcher Infrastrukturen ist nicht nur eine technische, sondern eine demokratische Frage.
Der Leitfaden formuliert hier nur ein Prinzip: Digitale Infrastrukturen, von denen das Funktionieren des Superorganismus in hohem Maße abhängt, dürfen nicht ausschließlich in den Händen unkontrollierter privater oder staatlicher Akteure liegen. Es müssen Governance-Strukturen existieren, die Transparenz, Rechenschaft und den Schutz von Rechten gewährleisten.
1.5.Quellen (Teil IV)
[29] IPCC (2022): Climate Change 2022: Mitigation of Climate Change – Working Group III Contribution to the Sixth
Assessment Report; insbesondere Kapitel 3 und 4 zu Minderungspfaden und Systemtransformationen.
https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/
https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/chapter/chapter-3/
https://www.ipcc.ch/report/ar6/wg3/chapter/chapter-4/
[30] UNEP (2024): Emissions Gap Report 2024 – Optionen für Minderung, einschließlich Nachfrageseite, Effizienz,
Elektrifizierung und Brennstoffwechsel.
https://www.unep.org/resources/emissions-gap-report-2024
https://www.unep.org/interactives/emissions-gap-report/2024/
[31] UNEP Copenhagen Climate Centre (2024): Sectoral greenhouse gas emissions reductions potentials in 2035.
https://unepccc.org/wp-content/uploads/2024/10/sectoral-greenhouse-gas-emissions-reductions-potentials-in-2035.pdf
[32] IEA (2024): Renewables 2024 – Global overview und Stromsektor-Analyse.
https://www.iea.org/reports/renewables-2024/global-overview
https://www.iea.org/reports/renewables-2024/electricity
[33] Ember / Reuters (2025): Berichte zur globalen Stromerzeugung – Rekordanteile erneuerbarer Energien (ca. 32% im
Jahr 2024) und Überholen der Kohle in der ersten Hälfte 2025.
Beispiel:
https://www.reuters.com/sustainability/climate-energy/renewables-provided-record-32-global-electricity-2024-ember-says-2025-04-07/
https://www.theguardian.com/environment/2025/oct/07/global-renewable-energy-generation-surpasses-coal-first-time
[34] Doughnut Economics Action Lab / Stadt Amsterdam (2019 ff.): The Amsterdam City Doughnut und Folgepublikationen
zur Umsetzung des Doughnut-Modells auf Stadtebene.
https://doughnuteconomics.org/amsterdam-portrait.pdf
Aktuelle Darstellung der Amsterdam-Strategie:
https://www.archdaily.com/997291/how-amsterdam-uses-the-doughnut-economics-model-to-create-a-balanced-strategy-for-both-the-people-and-the-environment
[35] Wellbeing Economy Alliance / Regierungen der WEGo-Staaten: Informationen zur „Wellbeing Economy
Governments“-Initiative (Neuseeland, Schottland, Island, Wales, u.a.).
https://weall.org/wego
Beispiel Schottland:
https://www.gov.scot/groups/wellbeing-economy-governments-wego/
[36] Parrique, T. et al. (2019): Decoupling Debunked: Evidence and arguments against green growth as a sole strategy
for sustainability. European Environmental Bureau.
https://eeb.org/wp-content/uploads/2019/07/Decoupling-Debunked.pdf
[37] Polewsky, M. et al. (2024): Degrowth vs. Green Growth. A computational review and research agenda. Ecological
Economics. (Zugriff über Fachjournale, z.B. ScienceDirect.)
https://www.sciencedirect.com/science/article/abs/pii/S0921800923003300
[38] KNOCA – Knowledge Network on Climate Assemblies / Climate Investment Funds (CIF): Materialien und Fallstudien zu
Klimabürgerräten in Europa, inkl. Beispielen aus Irland, UK, Frankreich u.a.
https://knoca.eu/climate-assemblies
https://www.cif.org/just-transition-toolbox/example/climate-citizen-assemblies-europe