1.Lessons learned: Extrem-Zonen-Modell im Stadt-X-Pflegepilot
1.1.Kontext und Forschungsfrage
In „Stadt X“ soll ein Weighted-Time-System (WT) den Pflegesektor fairer, gesünder und resilienter machen. Die Leitidee: Tätigkeiten mit höherer Belastung, höherem Risiko und größerer Knappheit sollen überproportional Zeit- und Sicherheitsgewinne bringen, statt ausschließlich monetär kompensiert zu werden.
Wir untersuchen ein Modell mit drei WT-Zonen:
- Zone A – Normal: Helfer:innen, Basispflege, geringere Belastung.
- Zone B – Hoch: ambulante Pflege mit mittlerer Belastung.
- Zone C – Extrem: Intensivpflege, Nacht- und Hochrisiko-Schichten.
Zentrale Forschungsfrage:
Kann eine Extrem-Zone C gleichzeitig
– hohe Belastung fair kompensieren,
– Burnout systematisch vermeiden
– und verhindern, dass in Zone A eine „unsichtbare Unterklasse“ entsteht?
Die Simulation ist bewusst als Gedankenexperiment angelegt: Die Zahlen sind plausibilitätsorientiert, nicht empirisch kalibriert. Sie dienen dazu, logische Bruchstellen im Design sichtbar zu machen.
1.2.Ausgangshypothese (v0.1)
1.2.1.Grundidee: WT-Formel und Cap
Einführung einer WT-Zeitökonomie neben dem Euro.
Jede Stunde Arbeit erzeugt WT, gewichtet nach fünf Faktoren:
- Belastung
- Risiko
- Knappheit
- Qualifikation
- Gemeinwohlbeitrag
Schematische Formel:
mit Skalen von 1–10 pro Faktor.
- Zusätzlich:
- Mindestwert (z.B. 1 WT/h), damit niemand unter einen definierten Sockel fällt.
- Maximalwert (Cap) (z.B. 5 WT/h), um Ausbeutung zu begrenzen und Extremwerte abzuschneiden.
1.2.2.Erste Beispielrechnung
Persona 1: Nachtschicht Intensivpflege (Zone C)
- Belastung = 9
- Risiko = 8
- Knappheit = 9
- Qualifikation = 8
- Gemeinwohl = 7
→ durch Cap gekappt auf 5 WT/h.
Persona 2: ambulante Tagespflege (Zone B)
- Belastung = 5
- Risiko = 3
- Knappheit = 4
- Qualifikation = 6
- Gemeinwohl = 5
Delta: 5 vs. 4,65 WT/h → nur ~7 % Unterschied, trotz massiv höherer Belastung und Risiko.
1.2.3.Erste Probleme (v0.1)
- Viele anspruchsvollere Tätigkeiten stoßen direkt an den Cap → Steuerungswirkung der Formel wird klein.
- Extrem-Jobs sind nur geringfügig besser gestellt, obwohl der gesundheitliche Schaden deutlich höher ist.
- Normativ unklar:
- Sollen Extrem-Jobs langfristig attraktiv gemacht werden?
- Oder sollte das System die Nachfrage nach solchen Schichten mittelfristig reduzieren, nicht vergolden?
1.3.Re-Design: Zonen mit klarem Zeitboden (v0.2)
Wir wechseln von „Formel-Feintuning“ zu Zonen mit expliziten Zielbildern.
1.3.1.Zeitboden und normatives Ziel
- Zeitboden: 200 WT/Monat = sichere Grundversorgung (Miete, Essen, Grundsicherheit + minimaler Puffer).
- Normatives Ziel: Jede Zone soll den Boden mit einer fairen Obergrenze an Wochenstunden erreichen können:
- Zone A (Normal): max. 25 Std/Woche
- Zone B (Hoch): max. 20 Std/Woche
- Zone C (Extrem): max. 15 Std/Woche
Wir rechnen rückwärts:
Bei 4 Wochen/Monat:
- A: 25 Std/Woche → 100 Std/Monat
- B: 20 Std/Woche → 80 Std/Monat
- C: 15 Std/Woche → 60 Std/Monat
Damit erreichen alle drei Personas mit unterschiedlicher Belastung denselben Boden (200 WT/Monat), aber mit unterschiedlich viel Arbeitszeit: Zone C braucht am wenigsten, Zone A am meisten.
1.3.2.Beispiel: Ziel 300 WT/Monat (150 % Boden)
Angenommen, Personen zielen auf 150 % Boden (300 WT/Monat), z.B. für Rücklagen oder Schuldenabbau.
- A (2 WT/h):
- B (2,5 WT/h):
- C (3,33 WT/h):
Interpretation:
- Alle erreichen denselben monetären Zielwert (300 WT/Monat),
- aber C braucht deutlich weniger Stunden als A,
- und A muss wesentlich mehr arbeiten, um B/C einzuholen.
1.4.Burnout-Szenario und systemische Schieflagen
1.4.1.Burnout in Zone C
Wenn C deutlich weniger Stunden für denselben Ziel-WT benötigt, entsteht ein starker struktureller Anreiz:
- Kurzfristig: „Gehe in C, arbeite weniger Stunden, baue schneller Schulden ab.“
- Mittelfristig: soziale Norm „Wer etwas erreichen will, muss durch C.“
Konsequenzen:
- Viele Menschen bleiben länger in C, als gesundheitlich tragbar ist.
- Rotationsregeln (z.B. max. 5 Jahre C, dann Pause) werden politisch verwässert oder informell umgangen – weil das System auf die hohen WT/h angewiesen ist.
- Burnout-Raten in C steigen; Ausfälle häufen sich; die Belastung wird auf eine schrumpfende Restgruppe verteilt.
1.4.2.Neue Unterklasse in Zone A
Die gleiche Logik erzeugt „von unten“ ein zweites Problem:
- Helfer:innen in A müssen bei 2 WT/h deutlich mehr Stunden leisten, um auf 300 WT/Monat zu kommen.
- Wer aus gesundheitlichen Gründen, wegen Care-Pflichten oder fehlender Qualifikation nie in C arbeiten kann, hängt strukturell hinterher.
Das Modell produziert damit:
- eine kleine, überlastete Hochrisiko-Gruppe in C als schnelle Aufsteiger:innen,
- und eine große Gruppe in A, die trotz unverzichtbarem Beitrag dauerhaft mehr arbeiten muss.
1.4.3.Metabolismus von Stadt X
Zusätzlich zur individuellen Ebene stellen sich Fragen auf Systemebene:
- Im Gedankenexperiment wurden zeitweise 100 Pflegekräfte auf 1000 Einwohner angenommen – deutlich mehr als realistisch.
Die Simulation überschätzt damit die verfügbare professionelle Pflegezeit. - Gleichzeitig bleiben andere „Organe“ des Stadt-Superorganismus (Bildung, Energie, Ernährung, Infrastruktur) unterdefiniert.
- In Summe ist unklar, ob die Stunden in A/B/C ausreichen, um den realen Pflegebedarf zu decken, ohne chronische Unterversorgung oder Überlastung anderer Sektoren.
1.5.Lessons learned (kondensiert)
Extrem-Zonen taugen nicht als Dauerkarriere
Zone C darf nicht als langfristiger „schneller Aufstiegsweg“ angelegt sein. Sie muss als kurze Spitzenphase mit strengen Gesundheitschecks, Pflichtpausen und Life-Time-Limits definiert werden.Zeitboden muss für alle Zonen fair erreichbar sein
Ein fester Boden ist nur dann gerecht, wenn Helfer:innen in A ihn mit realistisch begrenzten Stunden erreichen können. B/C sollten vor allem Lebenszeit, Sicherheit und Stabilität bringen, nicht primär Konsumspitzen.Keine unsichtbare Unterklasse in A
Wenn A dauerhaft mehr Stunden leisten muss, um denselben Boden zu erreichen wie B/C, entsteht eine neue Unterklasse im System – nur in anderem Gewand. Die Zonenlogik muss so kalibriert sein, dass A langfristig nicht chronisch „hinterherläuft“.Burnout als harte Charta-Verletzung
Hohe Burnout-Raten in C sind kein Kollateralschaden, sondern ein Indikator für die Verletzung von Grundrechten (Gesundheit, Unversehrtheit). Burnout- und Ausfallindikatoren müssen Teil der Feedbackregeln sein (vgl. Teil V).Superorganismus braucht eine Gesamt-Stundenbilanz
Es reicht nicht, einen Sektor (Pflege) im WT-System zu optimieren. Jede Zonenlogik muss in eine Gesamtbilanz der Arbeitsstunden von Stadt X eingebettet werden (Pflege, Bildung, Energie, Ernährung, Infrastruktur).Unsichtbare Care-Arbeit einpreisen
Ein relevanter Teil von Pflege findet unbezahlt im Haushalt statt. Wenn diese Care-Arbeit nicht mit WT sichtbar und bewertet wird, bleiben strukturelle Ungerechtigkeiten – insbesondere zulasten von Frauen – bestehen.
1.6.Skizze für v0.3 und Rolle von KI-Simulationen
Aus diesen Lessons ergeben sich Korrekturen und nächste Untersuchungsschritte:
Zone C als Kurzzeit-Organ
- Max. 3 Jahre am Stück, 6–8 Jahre im Leben.
- Obligatorische Health-Checks, danach verpflichtende Phasen in B/A.
- WT-Vorteile teilweise in langfristige Zeitpuffer umwandeln (lebenslange Reduktion der Pflichtstunden statt Monats-Einkommensspitzen).
Floor-Kalibrierung von Zielbildern her
- Zuerst definieren: „Wie viele Stunden pro Woche sollen A/B/C maximal arbeiten müssen, um sicher zu leben?“
- Erst danach WT/h daraus ableiten (statt umgekehrt) und gegen Charta-Prinzipien testen.
Care-Vollbilanz für Stadt X
- Kombination aus professioneller Pflege (A/B/C) und Angehörigenpflege in einem gemeinsamen WT-Budget.
- Sicherstellen, dass die Gesamtstunden realistisch sind und keine chronische Unterversorgung entsteht.
KI-gestützte Parametervarianten
- Künftige Arbeitsschritte können systematisch von KI unterstützt werden:
- Variation von Zonenparametern (WT/h, Zeitboden, Caps, Rotationslimits),
- Simulation verschiedener Personas und Bevölkerungsstrukturen,
- automatische Erkennung von Bruchstellen (z.B. Überlastung, Ungleichheitsprofile, sektorale Unterversorgung),
- Vorschlag von alternativen v0.3+-Designs unter Einhaltung der Charta.
- Künftige Arbeitsschritte können systematisch von KI unterstützt werden:
Diese v0.3-Skizze ist kein fertiges Modell, sondern eine nächste Hypothese, die wiederum gegen Charta und Teil V getestet und durch weitere Szenarien (auch in anderen Sektoren) ergänzt werden muss.
