1.Anhang B: Vom Bild zur Struktur – Der proto-Superorganismus Menschheit im Licht der Kritik
1.1.Ausgangspunkt: Weg von Gaia, hin zur Menschheit
Die klassische Gaia-Idee beschreibt die Erde selbst als Lebewesen. Dagegen wurden zu Recht Einwände formuliert: keine Reproduktion, kein globales Genom, Massenaussterben und Eiszeiten sprechen gegen einen dauerhaft selbstregulierenden Planetenkörper.¹³¹⁵
Die Version 2.0 reagiert darauf:
- Fokus auf die Menschheit als Art und Zivilisation, nicht auf den Planeten
- „Superorganismus“ als kybernetisches Modell: ein Netz aus Individuen, Institutionen und Technologien mit messbaren Regelkreisen
- explizite Abgrenzung von Teleologie und Religion
1.2.Klare Systemgrenze: Homo sapiens als Untersuchungseinheit
Biologisch ist die Wahl der Einheit naheliegend:
- Menschen teilen einen Genpool, Unterschiede zwischen Individuen sind im Vergleich gering.
- weltweite Migration und Durchmischung verstärken diese Vernetzung
- über globale Infrastruktur und Informationsnetze werden lokale Gesellschaften zu einer faktischen Funktionsgemeinschaft
In Analogie zu großen Ameisen-Superkolonien lässt sich die Menschheit als verteilte Superkolonie beschreiben: viele lokale Einheiten, aber ein gemeinsam wirksamer Funktionskörper.
Der „Körper“ besteht nicht aus Gewebe, sondern aus:
- Infrastruktur (Energie, Verkehr, Versorgung)
- Institutionen (Staaten, Märkte, Organisationen)
- Informationsnetzen (Internet, Medien, Bildung)
Die Erde ist der Lebensraum dieses Wesens, nicht das Wesen selbst.
1.3.Adressierung der Hauptkritiken
1.3.1.Biologische Grundlage
Problem bei Gaia: kein Genom, keine Fortpflanzung auf Planetenebene.
Antwort der 2.0-Version:
- Reproduktion findet auf Individuenebene statt; die Population als Ganzes wächst und verändert sich.
- Die Menschheit besitzt einen gemeinsamen Genpool.
- Funktionssysteme (Wirtschaft, Wissenschaft, Gesundheit, Infrastruktur) übernehmen Organfunktionen (Versorgung, Signalweiterleitung, Stabilisierung).
Der Begriff „Superorganismus“ wird analog zu sozialen Insekten verwendet,¹² ohne wörtliche Organismusbehauptung.
1.3.2.Kein evolutionäres Ziel
Kritik: Es gibt keinen Selektionsdruck auf Planeten, also auch kein „Ziel“ in der Evolution.
Antwort:
- Die 2.0-Version schreibt der Menschheit kein eingebautes kosmisches Ziel zu.
- Evolution bleibt zielblind; Ziele entstehen erst durch bewusste Agenten (Menschen, Institutionen, ggf. KI).
- Das Modell formuliert nur eine If-Then-Struktur:
- wenn langfristiges Überleben gewollt ist
- dann sind bestimmte Strukturen (Risikomanagement, Selbstbegrenzung, Verteilungsgerechtigkeit) zweckmäßig.
Es gibt keinen metaphysischen Plan, nur Konsequenzen.
1.3.3.Empirie: Krisen als Diagnose
Kritik an Gaia: Klimageschichte und Extinktionsereignisse zeigen keine harmonische Selbststabilisierung; teilweise agiert Leben selbst destruktiv (Medea-Hypothese).¹⁴
Antwort:
- Die Theorie behauptet nicht, die Menschheit sei schon ein stabiler proto-Superorganismus. Im Gegenteil:
- Klimakrise, Artensterben und nukleare Risiken sind Symptome einer dysregulierten Struktur.
- Gerade diese Fehlfunktionen motivieren das Modell:
- Wenn eine Spezies planetar wirken kann
- dann braucht sie bewusste Regelkreise, um diese Wirkung einzuhegen.
Der proto-Superorganismus-Begriff markiert also eine Aufgabe, nicht einen Istzustand.
1.3.4.Mechanismen: Vom Bild zur Kybernetik
Kritik: Gaia liefert kein konsistentes, messbares „Nervensystem“.
Antwort:
Auf Ebene der Menschheit lassen sich klare Funktionsblöcke definieren:
- Sensorik: Messnetze (Klima, Gesundheit, Infrastruktur), wissenschaftliche Datenerhebung
- Signalwege: Internet, Medien, Bildung, soziale Netzwerke
- Verarbeitung: Wissenschaft, Verwaltungen, Gerichte, Parlamente, Unternehmen, Algorithmen
- Effektoren: Gesetze, Steuern, Investitionen, technologische Umsetzungen, Verhaltensänderungen
Zielgrößen (z.B. CO₂-Budget, Mindestabsicherung, Ressourcenobergrenzen) können explizit definiert und über Rückkopplungen kontrolliert werden. Instrumente wie Zeitwirtschaft und WT sind Vorschläge für neue Regelkreise.
Damit wird der proto-Superorganismus modellierbar und empirisch überprüfbar: Man kann messen, ob bestimmte Strukturen Stabilität und Resilienz erhöhen.
1.3.5.Teleologie: Klare Trennung von Religion
Kritik: Gefahr, aus der Metapher eine Ersatzreligion zu machen („Die Menschheit hat eine Bestimmung“).
Antwort:
- Das Modell verzichtet konsequent auf Begriffe wie „Vorherbestimmung“ oder „kosmischer Sinn“.
- „Sinn“ wird ausschließlich als menschengesetztes Ziel verstanden.
- Alle Phänomene sind prinzipiell durch natürliche Kausalität erklärbar – ohne „Weltgeist“.
Der proto-Superorganismus ist eine Beschreibungsebene, kein handelndes Subjekt mit eigener Seele.
1.3.6.Evolution durch Kooperation und große Übergänge
Die 2.0-Version lässt sich in den Rahmen der Theorie der „Major Transitions in Evolution“ einordnen.¹⁷¹⁸ Dort werden Übergänge beschrieben, bei denen aus zuvor konkurrierenden Einheiten neue, kooperative Individuen entstehen – etwa Vielzeller aus Einzellern oder eusoziale Insektenstaaten aus einzelnen Tieren.²⁰
Gemeinsam ist diesen Übergängen, dass Kooperation nicht einfach „gut gemeint“ ist, sondern durch strukturelle Mechanismen abgesichert wird: Konfliktregulation, Arbeitsteilung, gemeinsame Vererbung. In der Sprache dieser Forschung könnte eine bewusst gestaltete, global kooperative Menschheit – unterstützt durch digitale Nervensysteme und robuste Institutionen – als Kandidat für einen neuen, noch unvollendeten Übergang gelesen werden: von vielen souveränen Akteuren mit ungezügelter Konkurrenz hin zu einer höheren Ebene, auf der Kooperation systematisch gestützt und destruktive Konflikte begrenzt werden.¹⁹
Dabei bleibt das Modell ausdrücklich nicht teleologisch: Es behauptet nicht, dass ein solcher Übergang unvermeidlich ist. Es beschreibt lediglich, welche kooperativen und konfliktregulierenden Strukturen nötig wären, damit die Menschheit eine ähnliche qualitative Sprungstelle erreicht wie einst die Vielzeller – nur diesmal bewusst, reflektiert und unter expliziter Wahrung individueller Rechte.
1.4.Langfristiges Projekt: Von Sterblichkeit zu Zivilisationsdauer
Ein Individuum ist sterblich; eine Art kann über geologische Zeiten existieren. Die Menschheit steht an einem Punkt, an dem sie ihre Überlebenswahrscheinlichkeit aktiv beeinflussen kann:
- Reduktion selbstverursachter Auslöschungsrisiken (Klimakollaps, Atomkrieg, unkontrollierte Technologien)
- Aufbau robuster Institutionen
- langfristig eventuell Ausbreitung in den Weltraum
Hier setzt die Idee des „unsterblichen Wesens“ an: Analog zur „unsterblichen Qualle“ Turritopsis dohrnii, die sich in ein früheres Entwicklungsstadium zurückversetzen kann,¹⁶ könnte eine Zivilisation Mechanismen ausbilden, um Krisen zu überstehen, sich zu regenerieren und an neuen Orten weiterzubestehen.
Wenn sich die Menschheit auf mehrere weitgehend unabhängige Standorte verteilt, entsteht eine Form von Reproduktion auf Zivilisationsebene: keine identische Kopie, aber verwandte Kulturen mit gemeinsamer Herkunft.
Das Modell behauptet nicht, dass dies zwangsläufig geschieht. Es beschreibt nur, welche Eigenschaften eine Spezies haben müsste, um in einem gefährlichen Universum langfristig zu bestehen.
1.5.Fazit: Funktionales Selbstbild statt Weltgeist
Die „Menschheit-als-Superorganismus-2.0“-Version ist:
- kompatibel mit Biologie und Systemtheorie
- klar abgegrenzt von Gaia-Teleologie
- säkular und empirisch anschlussfähig
- handlungsleitend, ohne sich als Naturgesetz zu gerieren
Sie bietet ein Selbstbild, in dem Verantwortung nicht delegiert werden kann: Der „Organismus“ ist nichts anderes als wir alle – mit unseren Institutionen, Technologien und Entscheidungen.
Die Menschheit ist noch kein gelungener proto-Superorganismus. Aber sie kann entscheiden, ob sie einer werden will – und welche Regeln dafür gelten.
1.6.Quellen
¹ WMO: „WMO confirms 2024 as warmest year on record“ https://wmo.int/news/media-centre/wmo-confirms-2024-warmest-year-record-about-155degc-above-pre-industrial-level
² Oxfam: „Billionaire wealth surges by $2 trillion in 2024“ https://www.oxfam.org/en/press-releases/billionaire-wealth-surges-2-trillion-2024-three-times-faster-year-while-number
³ V-Dem: „Democracy Report“ https://www.v-dem.net/publications/democracy-reports/
⁴ Freedom House: „Freedom in the World 2024“ https://freedomhouse.org/report/freedom-world/2024/mounting-damage-flawed-elections-and-armed-conflict
⁵ Nyhan & Reifler (2010): „When Corrections Fail“ https://link.springer.com/article/10.1007/s11109-010-9112-2
⁶ Kahan et al.: „Culture and Identity-Protective Cognition“ https://www.researchgate.net/publication/227542701_Culture_and_Identity-Protective_Cognition_Explaining_the_White-Male_Effect_in_Risk_Perception
⁷ Effektiv Spenden: „Germany Causes < 2% of Global CO2 Emissions“ https://effektiv-spenden.org/en/blog/germanys-co2-emissions/
⁸ FES: „Analysis of the 2024 European Elections in Germany“ https://www.fes.de/en/sozial-und-trendforschung/european-elections
⁹ Tagesspiegel: „Es ist eben nicht so, dass morgen die Welt untergeht“ https://www.tagesspiegel.de/politik/merz-sieht-klimaschutz-in-politik-uberbewertet-es-ist-eben-nicht-so-dass-morgen-die-welt-untergeht-9725627.html
¹⁰ Tagesschau (X): „Migration ist die Mutter aller Probleme“ https://x.com/tagesschau/status/1037588959419936768
¹¹ Lesch, Harald: „Warum ignorieren wir Fakten? Der Backfire-Effekt“ (YouTube) https://youtu.be/OQem_nMk65I
¹² Wikipedia: „Superorganism“ https://en.wikipedia.org/wiki/Superorganism
¹³ Wikipedia: „Gaia hypothesis“ https://en.wikipedia.org/wiki/Gaia_hypothesis
¹⁴ Wikipedia: „Medea hypothesis“ https://en.wikipedia.org/wiki/Medea_hypothesis
¹⁵ Tyrrell, Toby: „On Gaia: A Critical Investigation of the Relationship Between Life and Earth“ https://www.amazon.de/dp/0691121583
¹⁶ Wikipedia: „Turritopsis dohrnii“ https://en.wikipedia.org/wiki/Turritopsis_dohrnii
¹⁷ Wikipedia: „The Major Transitions in Evolution“ https://en.wikipedia.org/wiki/The_Major_Transitions_in_Evolution
¹⁸ West et al. (2015): „Major evolutionary transitions in individuality“ https://www.pnas.org/doi/10.1073/pnas.1421402112
¹⁹ Nowak, Martin A.: „SuperCooperators“ https://www.simonandschuster.com/books/SuperCooperators/Martin-Nowak/9781451626636
²⁰ Michod, Richard E. (2001): „Cooperation and conflict in the evolution of multicellularity“ https://www.nature.com/articles/6888080
