1.Everyone's life matters
1.1.Eine kleine Lebensgeschichte in Kapiteln
1.1.1.Der erste Schnitt
Es gibt Erlebnisse, die nicht vorbei sind, nur weil Zeit vergangen ist. Sie sitzen nicht als Erinnerung im Kopf, sondern als Stimmung im Körper: ein Geruch, ein Geräusch, ein Blick, der zu lange an dir vorbeigeht. Ich lernte früh, dass ein Organismus verletzlich ist – nicht philosophisch, sondern praktisch. Ein Moment, ein Fehler, und der Alltag bricht auseinander.
Ich weiß noch, dass ich unterwegs war. Ich weiß noch, dass ich danach nicht mehr weiß. Und dann: Aufwachen in einer Welt aus Schläuchen, Geräten, Stimmen, die zu schnell sprechen und zu selten fragen. Ich habe damals nicht verstanden, ob jemand wütend war – auf meine Eltern, auf mich, auf die Lage. Ich verstand nur die Kälte.
Später nannte ich es Misstrauen. Damals war es einfach ein Speicher: Krankenhaus als Ort, an dem man gerettet wird, ohne sich sicher zu fühlen.
1.1.2.Zu schnell fertig
In der Schule fiel mir nicht zuerst auf, dass ich „klug“ sein könnte, sondern dass das Tempo nicht stimmte. Aufgaben waren fertig, bevor der Raum überhaupt im Arbeitsmodus ankam. Das System reagiert auf so etwas mit Messungen. Es liebt Zahlen, weil Zahlen scheinbar Ordnung versprechen.
Aber eine Zahl erklärt keinen Menschen. Sie erklärt nicht, ob jemand Frieden findet. Sie erklärt nicht, ob jemand in Gruppen funktioniert. Sie erklärt nicht, ob jemand mit der Welt klarkommt. Sie ist ein Messwert – und Messwerte sind gefährlich, wenn man sie für Würde hält.
Ich wollte damals schon nicht „mehr vom Gleichen“. Ich wollte etwas, das wächst. Etwas, das nach vorn führt.
1.1.3.Der Gerechtigkeitssensor
Man nannte mich unruhig. Ich konnte schwer stillsitzen, wenn mein Kopf noch rannte. Gleichzeitig war ich oft der, der Streit schlichten wollte. Das klingt wie ein Widerspruch – ist aber keiner. Unruhe kann auch ein Radar sein: ein System, das ständig scannt, ob etwas nicht stimmt.
Unrecht war für mich nie ein Thema, über das man diskutiert. Unrecht war ein Reiz, der sofort ins Nervensystem ging. Ein falscher Ton, ein zu leichtes Lachen über jemand anderen, eine ungerechte Regel – und ich war innerlich auf Empfang.
Man kann damit alt werden. Man kann daran kaputtgehen. Oder man baut daraus eine Richtung.
1.1.4.Ranking
Mit dem Wechsel auf die nächste Schule wurde aus Lernen ein Wettbewerb. Nicht ein Spiel, nicht ein sportlicher Vergleich, sondern ein dauerndes Sortieren: oben, unten, brauchbar, peinlich, Zielscheibe. Ich wollte nie gegeneinander kämpfen. Schach, ja. Ein Brettspiel, ja. Aber nicht dieses subtile Degradieren, als wäre der Wert eines Menschen eine Funktion aus Noten und Status.
Geld war knapp. Das sah man. Und Kinder sehen alles, was sie benutzen können. Kleidung wurde zum Etikett, Etiketten wurden zu Rollen, Rollen wurden zu Gefängnissen. Ich fand einen Ausweg, der banal war und trotzdem viel sagt: Ich nahm nicht den Bus. Ich fuhr Fahrrad. Bei jedem Wetter. Lieber Gegenwind draußen als Gegenwind im engen Raum.
Manchmal ist Selbstregulation einfach: Exposition reduzieren.
1.1.5.Technik als Gegenraum
Dann kam Technik. Nicht als Flucht, sondern als Gegenwelt. Es gibt eine Art Logik, die tröstet: Wenn du einen Fehler machst, reagiert das System nicht mit Spott, sondern mit einem Ergebnis. Du kannst lernen, nachbauen, verbessern. Du kannst verstehen.
Mit einem Freund, der ähnlich tickte, fand ich so etwas wie Gleichklang. Wir sahen früh, wie fragil große Systeme sind, wenn niemand wirklich Verantwortung trägt. Wenn Erwachsene so tun, als wäre Sicherheit eine Selbstverständlichkeit. Wenn Kompetenz nicht dort sitzt, wo die Macht sitzt.
Wir testeten Grenzen. Nicht, weil wir zerstören wollten – eher, weil Neugier manchmal die falsche Richtung nimmt, wenn sie keine Ethik hat. Und weil man als Jugendlicher leicht glaubt, Systeme seien Spiele.
Als es dann knallte, lernte ich die andere Seite: Institutionen sind oft schneller im Strafen als im Lernen. Sie suchen Geschichten, keine Ursachen. Sie bauen Lager, keine Lösungen.
1.1.6.Kälte, Eis, Ohnmacht
Es gab Winter, die mir eine Sprache beigebracht haben, die der Kopf nicht spricht. Kälte. Wasser. Enge. Der Körper merkt sich solche Kombinationen. Er speichert sie wie einen Alarmcode, der Jahre später wieder anspringt, ohne dass du „darüber nachdenkst“.
Dazu kam Gewalt: eine Begegnung, die nicht nur weh tat, sondern Ohnmacht in die DNA des Alltags schrieb. Ich wusste danach: Es gibt Situationen, in denen du nicht debattierst. Du überlebst. Und wenn du überlebst, nimmt etwas in dir Maß – nicht nach Sinn, sondern nach Risiko.
Viele Menschen nennen das später „Trauma“. Ich nannte es lange einfach: Realität.
1.1.7.Die falsche Zahl
Es gab Momente, die fast komisch wirken, bis man versteht, was sie bedeuten. Ein Lehrer hielt es für eine gute Idee, eine Klasse mit einer Zahl zu sortieren – heimlich, natürlich, „nur für ihn“. Ich wusste sofort, dass es nicht geheim bleiben würde. Zahlen bleiben in Gruppen nie privat. Sie wandern. Sie werden Währung.
Am Ende stand wieder so eine Zahl. Und wieder passierte das Gleiche: Die Zahl wurde nicht zu Erkenntnis, sondern zu Rang. Plötzlich war ich nicht ich, sondern ein Wert. Ein Auslöser für Neid, Projektion, Ausgrenzung.
Ich verstand nicht, warum Menschen so reagieren. Was hatte ich getan – außer eine Aufgabe zu lösen? Aber genau das ist der Punkt: In einem System, das auf Wettbewerb dressiert ist, wird jede Messung zur Waffe.
1.1.8.Exit
Es gab eine Lehrkraft, die mir nicht widersprach, nicht begründete, nicht korrigierte – sie drohte. Öffentlich. Endgültig. Und in mir klickte etwas, das ich heute als Mechanismus erkenne: Wenn das System nicht reparierbar wirkt, gehe ich raus.
Ich meldete mich ab. Nicht als Drama, sondern als saubere Trennung. Ein Organismus, der merkt, dass ein Umfeld ihn beschädigt, reduziert Kontakt. Das ist keine Schwäche. Das ist Biologie.
Draußen war es nicht automatisch besser. Aber es war wenigstens wieder meine Entscheidung.
1.1.9.Rückkehr zur Wirksamkeit
Dann trat ein Mensch in mein Leben, der nicht an mir herumerklärte, sondern mich in Struktur zog. Nicht mit Parolen, sondern mit einem Plan. Eine Ausbildung, ein Abschluss, ein Ziel. Und plötzlich funktionierte etwas, das lange blockiert war: Selbstglaube.
Ich wurde gut. Nicht, weil ich plötzlich „wertvoller“ war, sondern weil ich in einem Rahmen war, der Sinn erzeugte. Ich half sogar dem, der sonst immer perfekt sein wollte – wenn er Hilfe annehmen konnte. Das war mir wichtig: Kompetenz ist kein Rang, Kompetenz ist ein Werkzeug. Und Werkzeuge teilt man, wenn man Kooperation ernst meint.
In dieser Phase begann ich zu verstehen: Viele scheitern nicht an Intelligenz. Sie scheitern an Umgebungen.
1.1.10.Ethik als Immunsystem
Später reizte mich eine Zukunft, die nach Autonomie klang: Maschinen, die selbst entscheiden. Systeme, die lernen. Robotik. Und dann sah ich den Schatten, der mitläuft: Alles, was man bauen kann, kann auch missbraucht werden. Und manche Missbrauchspfade sind nicht „Ausnahme“, sondern wahrscheinliche Logik, sobald Macht ins Spiel kommt.
Ich wollte nicht an Technologien bauen, deren Worst Case nicht Kollateralschaden ist, sondern Designziel für andere. Also zog ich die Reißleine. Das war kein Karriereknick. Das war Immunabwehr.
Ich ging dorthin, wo man anders wirken kann: Schnittstellen, Oberflächen, Daten sichtbar machen. Ein Nervensystem bauen, nicht einen Muskel.
1.1.11.Die Matrix im Kopf
Irgendwann traf ein Bild auf eine Beobachtung, die ich längst in mir trug: Dass die sogenannte Leistungsgesellschaft oft nicht nach Leistung sortiert, sondern nach Besitz. Dass Arbeit selten der Turbo ist, aber Eigentum einer sein kann. Dass manche mitlaufen, weil sie nicht wissen, wie man aussteigt – und andere, weil sie glauben, es gäbe keinen Ausgang.
Es gab eine Zeit, da wurde mir diese Logik zu eng. So eng, dass der Gedanke an „nicht mehr mitspielen“ plötzlich nicht nur philosophisch war. Ich war nicht stolz darauf. Es war kein Drama, das man erzählt, um Aufmerksamkeit zu bekommen. Es war eher ein kaltes Rechnen im Kopf: Warum soll man in einem Irrsinn weitermachen, der sich als Normalität tarnt?
Ein Mensch hielt mich fest, als ich nicht mehr gut war in Selbstschutz. Und ich blieb.
1.1.12.Familie im Paradox
Später wurde aus meinem Leben nicht nur ein Projekt, sondern eine Verpflichtung: Partnerschaft, Familie, Kinder. Und mit ihnen kam das Paradox in seiner reinsten Form: Ich will ein System ersetzen, aber ich muss in ihm funktionieren, um zu schützen, was mir am wichtigsten ist.
Pflicht und Mission leben nebeneinander. Nicht elegant, nicht romantisch. Eher wie zwei Motoren, die nicht im gleichen Takt laufen. Aber sie laufen.
1.1.13.Der Tod als Spiegel
Als ein Freund an Krebs starb und ich die letzten Tage nah dran war, sah ich etwas, das mich erneut aus der Bahn warf: ein Körper, der wartet. Eine Hülle, die kaum noch antwortet. Ein Leid, das sich nicht wie Würde anfühlt. Und das nagende Gefühl, dass Systeme oft nicht primär auf Menschlichkeit optimiert sind, sondern auf Prozess, Absicherung, Abrechnung.
Ich rutschte. Alkohol wurde zur falschen Bremse. Und dann kam eine klare Entscheidung: Notbremse. Komplett.
Seitdem ist der Kopf klarer. Nicht „heil“. Aber klarer. Und Klarheit ist manchmal das Wichtigste, wenn man etwas bauen will.
1.1.14.Proto-Superorganismus
In dieser Klarheit wurde aus einem Gefühl ein Modell. Wenn die Natur über unfassbar lange Zeiträume Organismen stabilisiert, dann muss es Prinzipien geben, die auch bei uns funktionieren: Feedback-Schleifen, Stoffwechsel-Logik, Reparatur, Abfallwirtschaft, transparente Signale statt Nebel. Ein System, das lernt, statt nur zu strafen.
Ich nenne es Proto-Superorganismus, weil es nicht nach Esoterik schmeckt, sondern nach Mechanik. Menschheit als lernfähiges Wesen, mit einem Nervensystem, das man vor Lügen schützen muss, mit Versorgungswegen, die nicht verstopfen dürfen, mit einem Fieber, das man nicht wegdiskutiert.
Und über allem: eine Charta als Kompass. Nicht als Predigt. Als Regelwerk, das Kooperation belohnt, Schaden begrenzt und Wahrheit nicht bestraft.
Ich will, dass es Spaß macht, das zu lesen. Aber ich will auch, dass etwas hängen bleibt: Dass wir nicht dazu verdammt sind, die Matrix zu spielen – wenn wir endlich akzeptieren, dass ein System, das Zins und Rendite als Naturgesetz verkauft, sich irgendwann gegen das Leben selbst richtet.
