Kapitel 2 – Der finanzielle und materielle Aufwand für die Menschheit auf lange Sicht Wenn man über die Transformation zu einer vollständig erneuerbaren Energiezivilisation spricht, klingt es oft, als sei sie unerschwinglich. Gigantische Zahlen kursieren: Billionenbeträge, Megatonnen Stahl, Kupfer, Silizium und Beton. Doch im größeren Maßstab – über Jahrzehnte, vielleicht Jahrhunderte – ist der Aufwand erstaunlich klein verglichen mit den Kosten des Unterlassens. Denn die Welt bezahlt bereits jetzt jedes Jahr einen gewaltigen Preis für das fossile Zeitalter: durch Stürme, Dürren, Überschwemmungen, Luftverschmutzung, Ernteausfälle und Krankheiten, die alle direkt oder indirekt auf die Verbrennung von Kohle, Öl und Gas zurückgehen.
Kapitel 2: Der Aufwand
Der Umbau der Energieinfrastruktur Die Menschheit müsste für den vollständigen Umbau auf 100 % erneuerbare Energien zunächst eine gewaltige Menge an Infrastruktur errichten: Solarfelder in den Wüsten, Windparks auf Land und See, Stromspeicher, Stromnetze, Wasserstoffanlagen, Wärmepumpen, Elektrolyseure, Recyclingzentren. Es klingt wie ein Mammutprojekt – und ist es auch. Aber es ist kein unlösbares.
Wenn man alle Investitionen zusammenrechnet, die nötig sind, um die Weltwirtschaft vollständig klimaneutral zu machen, liegen die Schätzungen zwischen 200 und 300 Billionen US-Dollar über einen Zeitraum von etwa dreißig Jahren. Das ist eine Zahl, die zunächst fassungslos macht. Doch teilt man sie auf die Weltbevölkerung und auf die Jahrzehnte, relativiert sich der Eindruck: Das entspricht etwa 3 % der globalen Wirtschaftsleistung pro Jahr – kaum mehr, als die Welt heute für militärische Rüstung, fossile Subventionen und Energieschäden ausgibt.
Mit anderen Worten: Die Menschheit könnte das fossile System ersetzen, ohne reicher oder ärmer zu werden – sie müsste nur umlenken, wohin sie ihre Energie, ihre Arbeit und ihre Rohstoffe investiert.
Materielle Grundlage: Rohstoffe und Kreisläufe Die Materialien für die neue Energieinfrastruktur sind endlich, aber sie zirkulieren. Photovoltaikmodule bestehen zu über 95 % aus Glas, Aluminium und Silizium – alles Stoffe, die sich vollständig recyceln lassen. Windturbinen bestehen aus Stahl, Kupfer und Verbundwerkstoffen, von denen der größte Teil wiederverwertet werden kann. Die Hauptaufgabe der Menschheit im 21. Jahrhundert wird also nicht darin liegen, unendlich viel Neues zu fördern, sondern einen stabilen Kreislauf industrieller Materialien zu schaffen.
Die Anfangsphase wird allerdings rohstoffintensiv sein. Der Bau von Solaranlagen, Batterien und Stromnetzen erfordert enorme Mengen Kupfer, Lithium, Nickel und seltene Metalle. Viele dieser Materialien müssen neu gewonnen werden, bevor Recycling im großen Stil einsetzt. Doch anders als bei Öl und Gas, die verbrannt und für immer verloren sind, bleiben diese Metalle im System. Eine Windturbine, die heute gebaut wird, liefert Energie für 25 Jahre und kann danach zu einer neuen Turbine recycelt werden. Im Laufe der Zeit sinkt der Rohstoffbedarf pro erzeugter Kilowattstunde drastisch.
Man kann sich das vorstellen wie die Errichtung eines globalen Kraftwerks aus Millionen kleiner, stiller Maschinen, die nach Fertigstellung nur noch gewartet, nicht mehr gefüttert werden müssen. Es ist ein gewaltiger Anfangsaufwand – aber danach fließt die Energie kostenlos, Tag für Tag, Jahrhundert für Jahrhundert.
Arbeitsleistung und „Menschzeit“ Auch der menschliche Aufwand verändert sich grundlegend. Im fossilen Zeitalter war Energie billig, aber Arbeitszeit teuer. Menschen verbrachten ihr Leben damit, Ressourcen zu fördern, zu transportieren und zu verbrennen – Tätigkeiten, die viel Aufwand erforderten, aber keine Nachhaltigkeit schufen. In der erneuerbaren Welt verschiebt sich dieses Verhältnis: Die körperliche Arbeit sinkt, während Planung, Wartung, Bildung und Kreativität an Bedeutung gewinnen.
Der Großteil der Arbeitsleistung steckt in der Errichtungsphase. Wenn die neue Infrastruktur einmal steht, erfordert sie nur einen Bruchteil der Beschäftigten, die heute in der fossilen Industrie arbeiten. Das bedeutet nicht Massenarbeitslosigkeit, sondern Freiheit: weniger Zwangsarbeit, mehr Zeit für soziale Aufgaben, Wissenschaft, Kunst und Pflege.
Finanzielle Amortisation Jede Investition in erneuerbare Energien trägt sich langfristig selbst. Eine Solaranlage amortisiert sich innerhalb von fünf bis acht Jahren, eine Windkraftanlage in etwa zehn Jahren – und liefert dann zwei Jahrzehnte lang kostenlose Energie. Global gesehen wird der Punkt erreicht, an dem die gesamte Investition wieder eingespielt ist, etwa zwanzig bis fünfundzwanzig Jahre nach Beginn der Umstellung. Danach wird das Energiesystem zu einer Nettoquelle von Wohlstand.
Das ist ein fundamentaler Unterschied zum fossilen Modell: Öl, Gas und Kohle müssen immer wieder gekauft, gefördert, transportiert und verbrannt werden. Jeder Liter Diesel, jede Kilowattstunde aus Kohle entsteht durch fortlaufende Kosten. Erneuerbare Energien sind das Gegenteil – sie haben hohe Anfangskosten, aber fast keine laufenden.
Sobald dieser Übergang abgeschlossen ist, verschwinden ganze Industriezweige, die bislang die Weltwirtschaft belasteten: der fossile Brennstoffhandel, Öltransporte, Raffinerien, Pipelines. Ihre Ressourcen – Material, Arbeitskraft, Kapital – werden frei und können in neue Bereiche fließen.
Langfristige Bilanz Auf lange Sicht sinken die Gesamtkosten der Energieversorgung gegen Null. Das bedeutet: Kein Land muss mehr Energie importieren. Energieabhängigkeit, Preisvolatilität und geopolitische Spannungen verlieren ihre Grundlage. Die Sonne schickt keine Rechnung, und der Wind erhebt keine Zölle.
In dieser neuen Ordnung wird Energie nicht mehr zu einem knappen Gut, sondern zu einer Infrastrukturleistung wie Luft oder Wasser. Die Staaten investieren in ihre Anlagen, halten sie instand, und die Bevölkerung nutzt sie, ohne dass daraus Profitinteressen entstehen.
Gleichzeitig verliert das Wachstum der Geldmenge seine bisherige Kopplung an Energiepreise. Heute ist fast jedes Produkt, jeder Transport, jede Dienstleistung vom Ölpreis beeinflusst. In der Post-Fossil-Ökonomie verschwindet dieser Multiplikator. Preisstabilität wird die Norm. Die Menschheit erhält ein Wirtschaftssystem, das nicht mehr durch Knappheit definiert ist, sondern durch Stabilität.
Die neue Energieökonomie Mit sinkenden Energiekosten verändert sich das Fundament der Ökonomie. Energie war immer der unsichtbare Taktgeber jeder Zivilisation. Vom Holz der Bronzezeit über die Kohle der Industrialisierung bis zum Öl des 20. Jahrhunderts: Jede Energiequelle bestimmte, wie Menschen arbeiteten, lebten und Kriege führten. Wenn Energie im Überfluss vorhanden ist, bricht dieses alte Muster.
Strom wird nicht mehr teuer gehandelt, sondern lokal erzeugt, gespeichert und geteilt. Der Begriff „Energiearmut“ verschwindet. Maschinen laufen, wann immer sie gebraucht werden. Die Kosten, um Daten zu verarbeiten, zu kühlen, zu heizen, zu produzieren oder zu forschen, sinken auf fast Null.
Damit beginnt etwas, das man heute kaum zu greifen vermag: Energie wird zu einem allgegenwärtigen, selbstverständlichen Bestandteil des Lebens – ein Hintergrundrauschen der Zivilisation, das niemandem gehört und allen zugutekommt.
Und damit endet Kapitel 2.
Im nächsten Kapitel geht es um die Umwelt und Natur ohne weitere Emissionen, und darum, wie sich die Welt wieder in ein Gleichgewicht verwandeln kann, das dem Kreislauf der Photosynthese ähnelt – träge, ineffizient und doch übermächtig wirksam.
Kapitel 3 weiterlesen